2004  schreib!mal  

Briefwechsel

ohn-Lennon-Gymnasium

Während der Vorbereitung der Gedenkveranstaltungen an der Putlitzbrücke am 9. November 2003 schrieb Henriette Hübner von dem John-Lennon-Gymnasium zwei Briefe. In „Annas Brief an Cassandra“ (basierend auf einer wahren Begebenheit) und dem „Antwortbrief von Cassandra an Anna“ verdeutlicht sie die Parallelen zwischen dem durch Vorurteile und grenzenlosen Hass entstandenen Holocaust und dem heutigen Rechtsextremismus und Fremdenhass, „die leider noch immer existieren.“ Briefwechsel

20. August 1942, Donnerstagmittag

[…]In diesen letzten Monaten lernte ich immer wieder: Seit Esra gebe es die eigentliche jüdische Religion, das „Gesetz“, die vielen hundert Vorschriften, die den Juden durch alle Stunden des Tages in jeder kleinsten Handlung an seine Religion binden, an Gott erinnern.

Die Gestapo ist wie Esra. Ich möchte einmal den Stundeplan des Alltags(ohne Außergewöhnliches wie einen Mord oder Selbstmord oder eine Haussuchung) festlegen. Im Aufwachen: Werden „sie“ heute kommen? (Es gibt gefährliche und ungefährliche Tage – Freitag z.B. ist sehr gefährlich, da vermuten „sie“ schon Sonntagseinkäufe.) Beim Waschen, Brausen, Rasieren: Wohin mit der Seife, wenn „sie“ jetzt kommen. Dann Frühstück: alles aus den Verstecken holen, in die Verstecke zurücktragen. Dann die Entbehrung der Zigarre; die Angst beim Teepfeiferauchen, das nicht gerade ins Gefängnis führt, aber doch Prügel einträgt. Die Entbehrung der Zeitung. Dann das Klingeln der Briefträgerin. Ist es die Briefträgerin, oder sind „sie“ es? Und was bringt die Briefträgerin? Dann die Arbeitsstunden. Tagebuch ist lebensgefährlich; Buch aus der Leihbibliothek trägt Prügel ein, Manuskripte werden zerrissen. Irgendein Auto rollt alle paar Minuten vorbei. Sind „sie“ es? Jedesmal ans Fenster, das Küchenfenster liegt vorn, das Arbeitszimmer hinten. Irgendwer klingelt bestimmt, mindestens einer am Vormittag, einer am Nachmittag. Sind „sie“ es? Dann der Einkauf, in jedem Auto, auf jedem Rad, in jedem Fußgänger vermutet man „sie“. (Ich bin oft genug beschimpft worden.) Mir fällt ein, ich habe die Mappe eben unter dem linken Arm getragen – vielleicht war der Stern verdeckt, vielleicht hat mich jemand denunziert.

Liebe Cassandra,

ich habe den wahren Grund für das Fortgehen von Julius nach Accra, in die Heimat seiner Eltern, über sehr lange Zeit verschwiegen, habe es verdrängt, darüber zu sprechen. Da es zwischen dir und mir keine Geheimnisse geben soll, möchte ich dir erzählen, was wirklich vorgefallen ist. Julius und ich fuhren in den Urlaub nach Mecklenburg-Vorpommern, an die wunderschöne Ostsee. Er wollte meine Heimatstadt Ahlbeck kennen lernen, das erste Mal sollte er dort meiner Familie begegnen. Wir waren

beide sehr aufgeregt und voller Vorfreude.

Als wir in Ahlbeck ankamen, beschlossen wir zunächst, einen kurzen Bummel durch die Stadt zu unternehmen. Ahlbeck hatte sich über die Jahre wirklich rausgemacht! Als wir aber die Strandpromenade verließen und in eine Seitenstraße einbogen, näherten sich uns plötzlich 2 oder 3 von diesen gewaltigen, kahlköpfigen Gestalten, die an die finstersten Momente unserer deutschen Geschichte erinnerten. Plötzlich waren da so viele von ihnen. Einer von denen, ein kräftiger Typ in Lederjacke, wahrscheinlich ihr Anführer, trat an Julius heran, schaute verächtlich und brüllte dann: „Neger! Du fickst eine deutsche blonde Frau? Was für eine Schande! Dafür zahlst du, Dreckschwein!“

2. August 1943, Montagvormittag, 11 Uhr

[…] Die Reihe der unflätigen Schimpfworte war eigentlich eng. Immer wieder „Schwein“, „Judenschwein“, „Judenhure“, „Sau“, „Miststück“- mehr fällt ihnen nicht ein. […]

Die Behandlung in der Bismarckstraße ähnlich wie vor 2 Jahren. Der Portier ganz sachlich: „Da hinter der Treppe warten.“ Ein Gestapokerl neben dem Schalter: „Scher dich nach hinten, du Schwein!“ Oben in dem „milderen“ Zimmer 68 ein langer Subalternbeamter am Schreibtisch ziemlich sachlich, nicht aggressiv, ein kleiner Kerl in der Tür höhnisch und grob. – „Du warst wohl noch nicht hier, dich haben sie vergessen? Du hast laut und deutlich zu sagen: ‚Ich bin der Jude Victor Israel Klemperer.‘ Jetzt gehst du heraus und sagst es…“ Geschieht. – „Was warst du früher?“ – „Professor? Hast zwanzig Semester studiert! Sieh mich nicht mit so dummen Augen an, sonst hau ich dir eine, daß du Pfingsten nicht von Ostern unterscheidest[…]

Julius blieb trotz allem sehr gefasst und fragte ängstlich: „Wie viel wollt ihr denn von mir haben?“ Doch sie wollten sein Geld nicht. Der Anführer grinste nur und antwortete: „ Eine kleine Brandmarkierung in deinem dreckigen Schädel reicht da schon aus.“ Nochmals fragte ich, ob wir das nicht auch mit Geld regeln könnten. Doch sie ließen nicht mit sich reden. Ich geriet jetzt in Panik, begann, laut um Hilfe zu schreien: „Hilfe! Hilfe!“.. Doch niemand wollte uns hören. Es waren doch Menschen auf der Straße! Es geschah am helligten Tage! Mein Verhalten machte sie umso aggressiver und nun schleiften sie ihn davon. Ich rannte ihnen nach.

Doch sie waren zu schnell. Im nächsten Moment sah ich mit meinen eigenen Augen, wie sie, in einer dunklen Einfahrt versteckt, alle auf meinen Julius eintraten. Als er völlig reglos am Boden lag, ließen sie endlich von ihm ab und rannten davon. Diese Feiglinge! Sein Kopf war von Blut überströmt, seine Nase gebrochen. Sie hatten ihm zigmal in den Magen und die Genitalien getreten. Ich sah ihn weinen, wimmern und er stammelte wirres Zeug. Wie konnten sie ihm solch ein Leid zufügen? Er lag danach über Wochen hinweg auf der Intensivstation. Das endlose Warten schien mich verrückt zu machen! Ich hatte solche Angst, Julius zu verlieren!

Cassandra, er ist gegangen, weil er sich hier in Deutschland nie als Deutscher akzeptiert gefühlt hat, auch wenn er hier geboren worden ist. Einmal sagte er mir: „Hier in Deutschland halte ich es nicht mehr aus! Die Leute werden mich immer auf der Straße angucken und davon ausgehen, dass ich nicht ihre Sprache spreche, dass ich anders rieche als sie, nach anderen Sitten lebe, eine andere Esskultur habe. Ihre Blicke und ihre Zurückhaltung mir gegenüber verraten mir, dass sie innerlich Probleme mit meinem andersartigen Aussehen haben und deswegen auch den direkten Umgang mit mir so oft meiden .“ Nach dem schrecklichen Erlebnis in Ahlbeck ist er dann nicht mehr aufzuhalten gewesen…

23. Februar 1938, Mittwoch

Aber manchmal sage ich mir: Was würde für mich anders im vierten Reich, wie immer es beschaffen wäre?

Wahrscheinlich würde die ganz große Einsamkeit erst dann für mich beginnen. Denn ich könnte nie wieder jemandem in Deutschland trauen, nie wieder mich unbefangen als Deutscher fühlen. Unendlich gern zöge ich ins Ausland, am liebsten nach USA, wo ich mit Selbstverständlichkeit Fremder wäre. Ich kann nicht glauben, dass 58 Jahre nach dem Holocaust noch immer so viele dieser Gruppierungen von gewaltbereiten Menschen existieren, die sich aufführen wie SS-Männer und sich wahrscheinlich sogar einbilden, in deren Verantwortung stehend, eine Mission erfüllen zu müssen! Wie schwach und berechenbar jeder Einzelne von denen ist. Doch welch unüberwindbar enorme Macht sie als Gruppe besitzen!! Ihr Hass ist absurd, weil er auf Vorurteilen basiert und von keinem dieser unmündigen, dummen Mitläufer plausibel begründet werden kann!

Silvester 1936, Donnerstag

Die 15-jährige Tochter des kommunistischen Zimmermanns Lange kam aus dem Arbeitslager, dem Nationalsozialismus gewonnen, den Eltern entfremdet. Die Führerin versammelte die Mädchengruppe auf dem Bahnsteig und hielt ihnen eine beschwörende Abschiedsrede: „Ihr seid selbständige Menschen, handelt nach dem, was ihr von mir gehört habt, laßt euch durch eure Eltern nicht beirren!“ Als Mutter Lange der Tochter ins Gewissen reden wollte, erhielt sie zur Antwort: „Du beleidigst meine Führerin!“ Ich denke mir diesen Fall verhunderttausendfacht und bin sehr bedrückt.

Wie kann es sein, dass sich Geschichte in ihren Grundzügen wiederholt, dass wir Menschen grausame, fatale Taten unserer Vorfahren erneut begehen, obwohl wir doch meinen, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen?

Cassandra, können wir dem nicht irgendwie entgegenwirken? Und, liegt es nicht sogar in unserer Verantwortung, jenes zu tun?

Erwarte deine Antwort in Ungeduld!

Ich umarme dich. Deine Anna

Liebe Anna,

es tat mir so gut, von dir zu hören! Ich vermisse unsere tiefen und innigen Gespräche sehr. Dein Brief hat mich sehr nachdenklich gestimmt. Von dem unglaublich furchtbaren Anschlag auf Julius habe ich bereits erfahren.

Erst letzte Woche rief er mich an und nach einem sehr langen Gespräch erzählte er mir dann alles. Ich war wirklich zutiefst erschüttert und habe lange gebraucht, um für mich zu begreifen, dass ein Teil des Hasses und der Vorurteile von Menschen gegen andere Menschen, also auch ein Teil der Ursachen des Holocaust, nach wie vor unter uns waltet. Dieses Problem des sinnlosen Hasses und der Vorurteile, die auf Ignoranz und durch sie verursachte Unwissenheit basieren, ist in der Tat ein hochaktuelles Thema. Und das wird es wohl leider auch immer bleiben!

Schau Anna, Vorurteile und sinnloser Hass beginnen oftmals bereits in der Schule. Als Kinder sind wir unvoreingenommen, wir spielen mit jedem, egal, ob unser Spielpartner schwarz oder weiß, libanesisch oder britisch ist oder als Christ oder Moslem aufgezogen wird. Wenn ein Kind ein anderes ablehnt, dann begründet, weil es zum Beispiel die Puppe geklaut hat oder Ähnliches.. Dann kommt die Schulzeit und das Erwachsenwerden. Mit der Kindheit lassen wir die kindliche Unschuld, die Unvoreingenommenheit und die Reinheit hinter uns. In der Schule lernen wir, uns bewusst prägen zu lassen, durch Lehrer, aber auch durch Schulkameraden.

Wir entwickeln uns zu Individuen, zu mehr oder weniger starken Persönlichkeiten, die alle verschiedene Werte haben, die beeinflussbar und mehr oder weniger voreingenommen sind. Auch kennt jeder von uns das Gefühl von Neid und Missgunst, welches einige erfolgreich bekämpfen, dem andere aber kaum entgegenzuwirken wissen. Und gerade die, die im Elternhaus viel reden und erfahren, die in der Schule viel Wissen erlangen, entwickeln sich oftmals zu starken Persönlichkeiten. Genau diese intelligenten, sehr wissbegierigen, ziemlich starken jugendlichen Persönlichkeiten erfahren während ihrer Schulzeit sehr viel Neid und Missgunst. So sind sie häufig die Außenseiter der

Klasse, weil sie sich abheben von allen anderen und ihren eigenen Kopf und Geschmack haben.

Genau diese Andersartigkeit ist dann vielen in der Klasse ein Dorn im Auge. So schließen sich viele schwache Persönchen zu einer Gruppe zusammen, werden in der Masse mächtig und einflussreich und bekämpfen, z. T. leider mit Erfolg, eben das, was sie alle selber nicht besitzen und nie besitzen werden- starke, selbstbewusste Persönlichkeiten. Ihr Hass auf diese Außenseiter basiert also auf Minderwertigkeitskomplexen und Geltungsbedürfnis eines jeden Einzelnen, welches nur in der Gruppe gestillt werden kann.

So gesehen sind die Außenseiter, die Andersartigen Sündenbocke für das Scheitern dieser Menschen als Persönlichkeiten. Kann man an dieser Stelle nicht tatsächlich einige Parallelen zum Zustandekommen antisemitischer Massenbewegungen im Nationalsozialismus ziehen? Du fragst, wie wir es schaffen können, dass die Menschen tatsächlich aus den fatalen Fehlern der Vergangenheit lernen? Ich denke, dass Hass vor allem zuerst einmal in seinen Wurzeln bekämpft werden muss. Schließlich beginnt die Gefährdung des Friedens zwischen den Menschen bereits im kleinsten Kreise, ich beziehe mich da auf Hass in der Familie, zwischen ehemaligen Freunden und so weiter.

Eine Vielzahl von uns Menschen leidet einfach unter einem Kommunikationsproblem. Viele von uns haben es nie gelernt, über Probleme zu reden. Die Rede muss das Mittel, die Waffe, zur Konfliktlösung werden, nicht die Anwendung von Gewalt, Messern und Pistolen! Liegt es nicht in der Verantwortung der Eltern, ihre Kinder dazu zu bringen, zu reden und tausend Fragen zu stellen, um Unwissenheit und Vorurteile zu bekämpfen?

Wahrheitsgetreue, sachliche Aufklärung in Familie, Schule und sonstigem Umfeld des Kindes muss an die Stelle von Vorurteilen, Schwarz-Weiß-Malerei und Verfälschungen von Wirklichkeiten treten. Der Kinder Geltungsbedürfnis soll gestillt werden. Kinder sollen zu starken, mündigen Persönlichkeiten erzogen werden, die auch durchaus Zivilcourage beweisen, wenn andere in Not sind. Außerdem sollen die Menschen aufhören, sich dem Gefühl von Neid und Missgunst hinzugeben, sondern sich die Stärken anderer zum Vorbild nehmen! Denn wenn wir neidisch sind, blockieren wir nur das Erkennen und Nutzen unserer eigenen Stärken. Neid führt zu Frust, sinnlosem Hass und Zerstörungspotential!

Wann werden wir Menschen Andersartigkeit endlich nicht mehr ablehnen und stattdessen erkennen, dass Vielfalt eine absolute Bereicherung für unsere Gesellschaft ist? Vielleicht begreifen wirklich nur Kinder, dass wir alle, ganz egal, woher wir stammen, wie wir aussehen, welche Religion wir vertreten, vor dem Gesetz gleich sind und frei denken und tun können, was wir wollen, solange wir die Spielregeln einhalten, solange wir die Menschenrechte wahren!!..

Du und ich, Anna, wir beide werden herzlich wenig zum Weltfrieden beitragen können. Doch wir können und sollten die Menschen um uns herum darüber aufklären, dass wir nicht schuldig für Fehler der Vergangenheit sind, wir uns unserer Verantwortung für Gegenwart und Zukunft aber nur erfolgreich stellen können, wenn wir unsere Vergangenheit nicht ignorieren und uns wirksam mit ihr auseinander setzen. Würde es nicht schon Beträchtliches bewirken, wenn das ein jeder von uns täte?

Bin in Gedanken bei dir.

Deine Cassandra

Kontakt: jettyhuebner@hotmail.com