2004  mach!mal  

Ost-ARBEITER

Marina Schubarth

Geschichtsperformance nach einer Idee von Marina Schubarth

Hintergrund

Im Zweiten Weltkrieg litt die deutsche Industrie an einem Mangel an Arbeitskräften. Um diesen zu beheben, wurden aus den von der Wehrmacht besetzten Gebieten fast sieben Millionen Menschen nach Deutschland verschleppt und zur Zwangsarbeit gezwungen. Mit dieser Arbeit konnte während des Verlaufs des Krieges die Wirtschaft aufrechterhalten werden, während die Firmen von den billigen Arbeitskräften profitierten.

Die Behandlung der Zwangsarbeiter war durch die Rassenideologie der Nationalsozialisten geprägt. Danach waren Westeuropäer, u.a. Franzosen und Belgier, die zur Zwangsarbeit verschleppt wurden, generell besser zu behandeln als Osteuropäer. Am schlimmsten traf es die sogenannten „OST-Arbeiter“. So die offizielle Bezeichnung der aus den besetzten Gebieten der Sowjetunion Verschleppten. Unter unmenschlichen Bedingungen mussten diese jahrelang in Deutschland arbeiten. Viele von ihnen waren noch Kinder und Jugendliche. Gerade für die „OST-Arbeiter“ war das Martyrium mit dem Ende des Krieges noch nicht vorbei.

In der stalinistischen Sowjetunion wurde diesen Menschen Kollaboration mit den Faschisten vorgeworfen, denn sie hatten ja in den Fabriken des Feindes gearbeitet. So wurden sie auch bei ihrer Rückkehr in der Heimat verfolgt, viele von ihnen auch in den GULAG geschickt.

Heute leben in der Ukraine noch etwa 600.000 ehemaliger Zwangsarbeiter. Viele davon wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage in der Ukraine in bitterer Armut. Vielfach sind sie, als Folge der Zwangsarbeit in Deutschland, schwer krank und ohne Kinder und Familie.

Die Diskussion um die Entschädigung der Zwangsarbeiter durch die deutsche Industrie brachte diesen Menschen erstmals die erhoffte und dringend notwendige Anerkennung ihres Leides. Mit der Einrichtung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ ist diese Diskussion jedoch auch wieder zum Erliegen gekommen.

Ziele

Mit der Inszenierung sollen Jugendliche an die Thematik der ehemaligen Zwangsarbeiter heran geführt werden. Die Darsteller sind Jugendliche aus acht Nationen. Viele von ihnen kommen vom „Club Dialog e.V.“. Gleichzeitig soll die Öffentlichkeit weiterhin für das Thema sensibilisiert werden. Ein Ende der Diskussion führt zum Vergessen. Tatsache ist auch, dass auf Grund der

bürokratischen Erfordernisse der Entschädigungszahlungen für viele der Berechtigten jede Hilfe zu spät kommt. Immerhin sind die ehemaligen Zwangsarbeiter inzwischen alle über 70 Jahre alt, teilweise über 90.

Durch die Aufführung wird auf die Arbeit von „KONTAKTE-KOHTAKTbI e.V.“ hingewiesen. Der Verein hat es sich zu Aufgabe gemacht, Spendengelder zu sammeln und diese als Soforthilfe an Bedürftige ehemalige Zwangsarbeiter in der Ukraine und Russland zu geben. Auf diese Art und Weise konnte in den letzten Jahren vielen dieser Menschen eine dringend benötigte Operation oder sonst unerschwingliche Medikamente bezahlt werden.

Konzept

Aufführungsort ist eine 1941 durch den Einsatz von Zwangsarbeitern zu einem Luftschutzbunker umgerüstete U-Bahn-Anlage, die sich am Gesundbrunnen in Berlin-Wedding befindet. Betreut wird die Anlage durch den Verein „Berliner Unterwelten e.V.“. In einem Teil dieser Bunkeranlage, auf etwa 1500 qm, wird mit Fotos und Texttafeln eine Ausstellung gezeigt. Diese wird durch die Verbindung mit Lesungen aus Briefen ehemaliger Zwangsarbeiter, szenischen Darstellungen, sowie Soundcollagen und russischen Volksliedern ergänzt und erweitert. So entsteht eine Einheit der verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen, die dem Zuschauer einen eigenen, persönlichen Zugang zu Problematik der

Zwangsarbeiter ermöglicht. Dabei beschränkt sich das Szenario nicht auf die Geschichte der Zwangsarbeiter im Dritten Reich, sondern verfolgt ihren Lebensweg weiter bis zur heutigen, oft

unbefriedigenden Situation nach der Einrichtung der Stiftung der deutschen Industrie.

Mitwirkende:
Regie, Choreographie: Marina Schubarth, Natalija Bondar
Künstlerische Leitung: Inna Artemova
Technische Leitung: Ulrike Vetter, Branka Letitsch
Regieassistenz: Kay Heyne
Technische Unterstützung: Berliner Unterwelten e.V.

Darsteller:
Arthur aus Kasachstan Dennis aus der Ukraine
Dadaj und Dschamila aus Tschetschenien Lena aus Jugoslawien
Anja aus der Ukraine Jan aus Deutschland
Momo aus Deutschland Stephanie aus Deutschland
Julia aus Russland Jan aus Deutschland
Werner aus Deutschland Maria aus Deutschland
Lenin aus Deutschland Branka aus Jugoslawien
Ella aus Russland Marcello aus Bolivien
Jo-Anne aus Deutschland Anja aus Polen

Textauszüge

Erinnerung…, manche löscht sogar die Zeit nicht aus… – das Gedächtnis hält diesefest. Ich würde gerne alles vergessen, aber zu vergessen ist es unmöglich…

… Bis heute weiß ich nicht, ob man uns nun verschenkt oder verkauft hat. Auf jeden Fall kamen wir in die Pulverfabrik der Stadt Schönebeck. Dieser Ort wurde zu unserem neuen Wohn- und Arbeitsort….

… Das wir uns z.B. beim kleinsten Fehler, in die Luft hätten sprengen können… Wir waren vor lauter Hungergefühl und Schlafmangel völlig apathisch geworden…

… Es war den Deutschen doch sowieso egal, wer wir waren, woher wir kamen, was unsere Eltern machten, und was wohl unsere Eltern jetzt, ohne uns durchmachten… Wir hatten ja nicht einmal einen Namen, sondern nur die Aufschrift „OST“…

… Später, mit zwanzig Jahren, konnte keine von uns, die diese Hölle durchgemacht hatte, mit Gesundheit prahlen. Alle blieben wir ein Leben lang krank. Die Arbeit in Deutschland, in der Pulverfabrik, macht uns psychisch und physisch krank.

… Wir wurden den sowjetischen Soldaten übergeben, und damit dem neuen Schrecken. Es folgten grauenhafte und demütigende Verhöre. Beschimpfungen jeglicher Art…

… ich mit meinen 15 Jahren war nicht freiwillig dort, oder weil man mir versprach, in der Pulverfabrik viel Geld zu verdienen! Warum also? Warum mussten Tausende wie ich, die in Deutschland Sklaven waren, nun so viel Leid in der Heimat erfahren?…

… Heute bin ich 76 Jahre alt, lebe von 25 Euro im Monat… lebe? … Nein, dass kann man nicht Leben nennen. Ich existiere einfach. Die Arbeit in der Pulverfabrik hat meine Gesundheit gänzlich ruiniert…