2004  mach!mal  

Sinti und Roma im Nationalsozialismus

Leonard-Bernstein-Oberschule

Aus dem Nachwort der Dokumentation des Projekts: (Mehr ist auf der Projektmesse von denk!MAL vom 19. – 27. Januar 2004 im Abgeordnetenhaus von Berlinzu sehen)

Im Rahmen des aktuellen Geschichtswettbewerbs 2003 des Bundespräsidenten „Weggehen – Ankommen / Migration in der Geschichte“ führten wir als Klasse 11/3 mit unseren Lehrer Herrn Beckmann das Projekt „Verfolgung und Verschleppung von Sinti und Roma im Nationalsozialismus dargestellt am Zigeunerlager Berlin-Marzahn“ durch.

In diesen Wochen und Monaten erinnerten wir uns ebenso wie viele Sinti und Roma an das, was ihren Angehörigen vor 60 Jahren in diesem, auch ihrem Land angetan wurde. Vor 60 Jahren leitete der „Auschwitz-Erlass“ Heinrich Himmlers die Endphase des Völkermords ein, vor 60 Jahren, zwischen März und Juni 1943, fuhren die Deportationszüge mit Sinti und Roma planmäßig in die Vernichtungslager, auch direkt vom Zigeunerlager Marzahn aus an die Todesrampe des KZ Auschwitz-Birkenau.

Die wenigen Überlebenden dieses Völkermordes verloren den Großteil ihrer Verwandten und Bekannten. Auch Otto Rosenberg quälte noch lange danach die Frage, warum ausgerechnet er überlebt hat. Wir durften mit Petra Rosenberg, der Vorsitzenden des Berliner Landesverbandes der Sinti und Roma, über ihren Vater und die Ängste von Kindern reden, deren Eltern Opfer von Traumatisierung und Verfolgung im Holocaust wurden. Wir hörten auch von anderen Überlebenden, die sich aus Angst vor erneuter Verfolgung die KZ-Nummer entfernen ließ. Sie haben jetzt Angst, wieder ein Opfer des rechtsradikalen Terrors zu werden. Uns wurde von Flüchtlingen aus Rumänien erzählt. Internationale Randerscheinungen der Armut und des Flüchtlingselends werden selbst in renommierten Nachrichtenmagazinen zu ethnischen Eigenschaften verfälscht. Die Opfer werden zu Tätern gemacht. Flüchtlinge vor Pogromen, Feuer, Totschlag und Vergewaltigung werden pauschal zu Asylschwindlern diffamiert, zu „Armutsflüchtlingen“ oder zu „Nomaden“ umgelogen. Das passt offensichtlich besser in alte Klischees und erleichtert die Abschiebung. Während der Arbeit an diesem Thema fanden wir heraus, dass immer noch selbst in den Amtstuben partielle Moral und partieller Rassismus existieren. Auch die deutschen Sinti und Roma, seit Jahrhunderten keine Fremden, sondern unsere Mitbürger, die zunehmend ebenfalls Opfer dieser Diffamierungen und Beschimpfungen werden, fragen: Wo sind die Politiker, die Christen und Demokraten, die sich für uns einsetzen? Sicherlich gibt es Erklärungen und wirtschaftliche Hintergründe für das, was sich derzeit auf unseren Straßen, vor Asylbewerberheimen oder auch in Marzahner U- und Straßenbahnen abspielt Junge Menschen, die wehrlose Flüchtlinge und Ausländer angreifen, dürfen unserer Meinung nach nicht länger nur als „Randalierer“ oder „Krawallmacher“ verharmlost werden. Steineschmeißer und Brandstifter müssen als feige und asozial bezeichnet und als Straftäter verfolgt werden.

Ein Ausschnitt aus der Rede Otto Rosenbergs in Sachsenhausen am 27.Januar 2000 hat uns die gesamte Projektarbeit über sehr beschäftigt: „… Wie kann man angesichts dieser in Millionen zählenden Massenvernichtung anderen noch den Wert jedes einzelnen Menschen vermitteln? Wie kann man als einer, dessen Leben von den Erfahrungen der Konzentrationslager und der eiskalt geplanten Massenvernichtung gebrannt ist, noch mit der nötigen Sicherheit und Klarheit der Jugend gegenübertreten und ihr die Bedeutung von Achtung und Respekt gegenüber jedem Menschen, gleich welcher Kultur, Religion oder Weltanschauung er angehört, als unverzichtbaren Wert nahe bringen? … Wie soll man weiter darüber sprechen, wenn so viele Menschen sich wünschen, dass wir Überlebenden und Nachkommen endlich damit aufhören sollen?“

Wir begreifen zunehmend, Pogrome fangen in den Köpfen an. Aufgeklärtes Bewusstsein ist – wie auch das Ergebnis unserer Umfrage beweist- eher selten. Bei den Juden, der größeren Opfergruppe des rassistischen Völkermords, sind moralische Sensibilität und Unrechtsbewusstsein immerhin politisch noch anzumahnen. Bei den Sinti und Roma aber zeigen selbst engagierte Zeitgenossen eine erschreckende Ignoranz. Doch auch diese kleine und gerade wehrloseste der Opfergruppen verdient unserer Meinung nach die gleiche politische Anerkennung und Entschädigung, wie alle anderen auch. Daher prägte unsere Arbeit ein sehr passendes Zitat aus dem Gespräch mit Fred Löwenberg:

„Auch die Kleinen gilt es zu beachten. Auch die vermeintlich Wehrlosen gilt es zu beschützen. Denn Rassismus beginnt im Kleinen!“

(aus dem Neuen Deutschland vom 31.10.2003:)

Zigeunerlager war ein Zwangslager
Schüler erforschten ein Kapitel der Ermordung von Sinti und Roma durch Nazis 

Von Andreas Fritsche 


Regisseurin Leni Riefenstahl missbrauchte Sinti und Roma aus dem Zigeunerlager Marzahn als Komparsen für ihren 1940 bis 1942 gedrehten Heimatfilm »Tiefland«. Mehr als 60 Jahre später machten Schüler aus dem Berliner Stadtteil Marzahn die Sinti und Roma zu Hauptfiguren in einem Geschichtsprojekt.
 

Die Schule im Dorf Marzahn durften die Sinti und Roma nicht besuchen. Der halbwüchsige Otto Rosenberg erhielt seinen Unterricht deshalb in einer Baracke im so genannten Zigeunerlager Marzahn. Die Sängerin Marianne Rosenberg (»Er gehört zu mir«) ist sehr bekannt, das Schicksal ihres Vaters Otto kaum.
Schüler einer 11. Klasse der Marzahner Leonard-Bernstein-Oberschule fanden in einer Befragung heraus, dass nur wenige Einwohner des Stadtteils über das ehemalige Zigeunerlager Bescheid wissen. Im Geschichtsunterricht betrieben die Jugendlichen Nachforschungen.
Sie suchten Bilder in der Fotosammlung des Berliner Landesarchivs am Eichborndamm. Sie wühlten sich durch die Aktenbestände des Bundesarchivs in Dahlwitz-Hoppegarten. Sie lasen Otto Rosenbergs nach alten Tonbändern aufgezeichnete Autobiografie »Das Brennglas«.
Die Schüler suchten auch ein Denkmal auf, das auf dem Parkfriedhof im Wiesenburger Weg steht. »Vom Mai 1936 bis zur Befreiung unseres Volkes durch die ruhmreiche Sowjetarmee litten in einem Zwangslager unweit dieser Stätte hunderte Angehörige der Sinti, Ehre den Opfern«, heißt es auf dem 1986 eingeweihten Gedenkstein.
Insgesamt forschten die Jugendlichen von Mitte November 2002 bis Ende Februar 2003. Die Ergebnisse ihrer Recherche fassten sie auf rund 70 Seiten zusammen. Ihr Lehrer Olaf Beckmann reichte das Papier bei der Hamburger Körber-Stiftung ein, die regelmäßig den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten veranstaltet.
Eine Jury sprach Beckmanns Zöglingen kürzlich einen mit 500 Euro dotierten vierten Preis zu. Ein fünfter Preis ging an das Städtische Gymnasium Prenzlau, wo Schüler die Auswanderung aus der Uckermark untersuchten. Besser platzierte sich niemand aus der Region Berlin-Brandenburg. Auf die Idee, das Projekt Zigeunerlager beim Wettbewerb einzureichen, kam Lehrer Beckmann, weil er als Kind selbst einmal teilnahm. Damals erforschte Beckmanns Klasse den Faschismus in der Heimatstadt Bremerhaven und bekam dafür 300 Mark. Jahre später brachte der heute 38-Jährige seine Schüler auf die Idee, sich mit dem Zigeunerlager Marzahn zu beschäftigen. Die Jugendlichen fanden folgendes heraus:
Die Nazibehörden planten schon seit 1934, die Sinti und Roma in Berlin in Lager zu bringen und dort unter strenge Polizeiaufsicht zu stellen. Diesen Plan setzten sie 1936 im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele in die Tat um. Am 16. Juli 1936 trieb die Polizei 600 Menschen auf ein Gelände in der Nähe des heutigen S-Bahnhofes Marzahn. Dort war zuvor eine Fläche im Winkel zwischen Friedhof, Schienen und Rieselfeldern planiert worden. Die Opfer mussten unterschreiben, dass sie ihre Internierung anerkennen.
Im Lager standen anfangs 130 Wohnwagen durchnummeriert beieinander. Wer in den Wagen keinen Platz mehr fand, musste darunter nächtigen– »nur mit Decken vor der Witterung geschützt«, wie die Gymnasiasten schreiben. Außerdem gab es ausgemusterte Baracken des Reichsarbeitsdienstes. 500 bis 800, zeitweise sogar 1000 Insassen teilten sich drei Brunnen und zwei Toilettenanlagen. »Im März 1939 diagnostizierte die Gesundheitsverwaltung in dem völlig überfüllten Lager zahlreiche Fälle von Scharlach, Diphtherie und Tuberkulose.«
Zwar zäunten die Nazis den Platz nicht ein. Wer ihn verlassen wollte, musste sich aber bei den wachhabenden Polizisten abmelden. Männer durften zur Arbeit, wobei sie widerspruchslos jede Stelle anzunehmen hatten, die ihnen das Arbeitsamt zuwies. Frauen durften das nahe gelegene Geschäft des Kaufmanns Hasse aufsuchen. Nach Ansicht der Gymnasiasten war das Zigeunerlager ein Zwangslager.
Die Nazis erwogen zeitweise, das Gelände zum KZ auszubauen. Dazu kam es jedoch nicht. Von März 1943 bis Ende Juli 1944 deportierten die Faschisten zirka 23 000 Sinti und Roma aus ihrem Machtbereich in das Vernichtungslager Auschwitz. Den Lagerkomplex Birkenau BIIe liquidierte die SS in der Nacht zum 3. August 1944. In dieser Nacht vergaste sie die letzten 2897 in Auschwitz eingesperrten Sinti und Roma. Ermordet wurden auch die meisten der Sinti und Roma aus dem Zigeunerlager Marzahn, die bei den Studioaufnahmen von Riefenstahls »Tiefland« in Babelsberg als Statisten mitwirkten. Otto Rosenberg überlebte die Zigeunerlager in Marzahn und Auschwitz-Birkenau. Seit 1982 Vorsitzender des Landesverbandes der Sinti und Roma, starb er am 4. Juli 2001.

(ND 31.10.03)